28.5.15, Uraufführung von "A1 – Ein Stück Schweizer Strasse", Zürich ,Schauspielhaus (Pfauen).

«Sei nicht Du selbst!» – Oder warum Woodstock in Dieter Bohlen steckt

«How does it feel, when life doesn’t seem real»: Wie fühlst Du dich, wenn das Leben nicht echt scheint? Das singt Graham Nash 1971, zwei Jahre nach Woodstock und ein Jahr nach der ersten Auflösung der Folk-Supergruppe Crosby, Stills, Nash and Young. Nash, einziger Europäer des Quartetts, weiß was gegen Gefühle der Entfremdung zu tun ist. Wie man sich schützt vor Computern, die wir extra programmiert haben, damit wir blind bleiben – «built a computer and programmed ourselves not to see». Der Schlüssel zum Paradies erscheint im Refrain: «Be Yourself» – Sei Du selbst. So heißt der Song, zu finden auf dem ersten Soloalbum von Graham Nash, «Songs for Beginners», ein Titel von zarter Unschuld. Die Hülle zeigt den Hippiesänger im Garten, etwas verschwommen, der tiefgründige Blick ist aber gerade noch zu erkenen. Das Bild will sagen: Ein Mann ohne Rockstar-Allüren, ganz natürlich, ernsthaft. Nash hat zu diesem Zeitpunkt bereits eine beachtliche Karriere im Showgeschäft hinter sich: Zuerst mit der Gruppe The Hollies, die Teil der British Invasion war, dann mit den politisierten Folkrockern in Kalifornien. Doch im Garten des Landhauses ist der Solosänger Nash ganz himself.

Im Befehl «Be Yourself», der in der Produktewerbung längst zum Konsumklischee geronnen ist, in diesem Befehl steckt also viel Hippiekram. «Be Yourself» ist auch der Befehl, der im Zentrum der zahllosen Casting Shows steht, die seit rund zehn Jahren um die Welt gehen. Junge Menschen werden von einer Armee von Experten zu Leistungsträgern geformt, und müssen dabei stets betonen, sie seien ganz sich selbst. Be yourself, sei authentisch: Daraus spricht die Sehnsucht, dass die Maschine Gefühle haben soll, und dass diese Gefühle irgendwie relevanter seien als die Musik. In der Logik dieser Shows ist Pop tatsächlich am Ende der Geschichte angekommen, der Lärm des Formats kann über diese Melancholie nicht hinwegtäuschen. Statt Händl, Mozart und Schubert gibt es nun die Beatles, Whitney Houston und Nirvana in neuen Interpretationen. Alles, was in drei Minuten hübsch klingt oder brav rockt, kehrt wieder als Geist ohne sozialen Körper. Es bleibt den Kandidaten gar nichts anderes übrig, als die vorfabrizierte Individualität der Maschine zu akzeptieren. Und akzeptieren heißt in diesem Format: zusammenbrechen. Die Träne ist das höchste Gut der Casting Show, Subjektivierung gibt es hier in Nahaufnahme. Das Muster ist stets dasselbe, egal ob die Show Deutschland sucht den Superstar heißt, Pop Idol wie das Original in England oder American Idol. Kann es ein Zufall sein, dass Graham Nash, unser «Be Yourself»-Barde, in der siebten Staffel von American Idol als Gast aufgetreten ist? Wir lernen: Wo Dieter Bohlen drauf steht, ist Woodstock drin.

Im August letzten Jahres wurde die Ausschreibung für die Autorentheatertage 2012 verschickt, für den Stückwettbewerb, dessen Siegertexte am Schluss dieses Festivals in Werkstattinszenierungen gezeigt werden. Ich durfte ein Motto wählen – diejenigen meiner Vorgänger hießen etwa «Interest me» oder «Make me laugh». Ich schrieb «Sei nicht Du selbst» in den Titel. Kann sein, dass das Thema zu offen war, offen selbst für das Gegenteil, wie sich bei der Lektüre der hundert eingesandten Stücke gezeigt hat. Ein Text handelte, wenn ich nicht irre, von Neo-Bürgerlichkeit im Prenzlauer Berg. Die Macchiato-Mutter kam nicht wörtlich vor, war aber gemeint. Das Stück entsprach genau dem Gegenteil von dem, was ich wiederum meinte, weil es nur unter Ähnlichen spielt, weil es, wie die ganze Debatte über den überdeterminierten Stadtteil selbst, nur Spiegelbilder des jeweiligen Beobachters sucht. Diese Milchkaffee-Milieudebatten lenken davon ab, dass man sich schon wieder nur mit sich selbst beschäftigt hat (statt mit den Themen, die dahinter stehen: Geschlechterrollen, Stadtentwicklung, Umverteilung). Noch in der Hassrede schaut man allein in den Spiegel.

Genau diese Selbstbespiegelung wollte ich mit der Ausschreibung verhindern. Im Motto «Sei nicht Du selbst» versteckt sich, wie ich finde: recht auffällig eine Narzissmus-Diagnose, deren Symptome sehr unterschiedlich sind, wie ich kurz umreißen werde. Wie diese Symptome entstehen, auch in der Kunst, ist dann etwas komplizierter.

Vor diesen Ausführungen zum Thema und zu den Stücken aber möchte ich dem Intendanten Ulrich Khuon und dem Dramaturgen John von Düffel herzlich danken. Für die Anfrage, die Lange Nacht der Autoren zu jurieren. Aber genauso für die offenen, dabei stets professionellen, heißt: am Gegenstand ausgerichteten Gesprächen mit der Dramaturgie. Die letzte Entscheidung habe ich autonom getroffen, aber der Weg dahin führte durch viele kollektive Momente. Das fand ich ausgesprochen anregend, und am Ende: großzügig. Vielen Dank!

Der Siegeszug des Authentischen oder Authentizistischen, also authentisch-Sein-Wollenden, der Befehl zum narzisstischen Ich-Selbstsein hängt eng mit dem Wandel von Öffentlichkeit zusammen. Es ist ein Wandel, an dem weder das Fernsehen noch der Computer schuld sind, denn er dauert schon ein paar Jahrhunderte an. Man kann diese Geschichte bei Richard Sennett nachlesen, im 1974 erschienenen Buch «Verfall und Ende des öffentlichen Lebens» (engl: «The Fall of Public Man»). Fast noch berühmter ist es für seinen Untertitel : «Die Tyrannei der Intimität». Sennett bezieht sich darin immer wieder auf zwei zentrale Bühnen der Öffentlichkeit: das Theater und die Stadt.

Sennett zitiert Balzac, den Beobachter der Stadt als Bühne, der eine Typologie des Zuschauers entwirft: «Ein Provinzbewohner glaubt nur das, was er an denen beobachtet, die ihm durch täglichen Umgang vertraut sind; der Kosmopolit dagegen ist bereit, an alles zu glauben, was er sich in bezug auf Lebensformen und Leute, die er noch kennenzulernen hat, nur vorstellen kann.» Balzac sagt das in Paris, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Kosmopolit ist der Bürger mit frisch erstarktem Selbstvertrauen. So jemand hält die Darstellung von Differenz aus, ja er genießt sie geradezu. Der Schauspieler steht auf derselben Stufe mit den Fremden, die den Bürger in der Stadt umgeben. Der Bürger kann weder den Fremden noch den Schauspieler sofort definieren, geschweige denn verstehen, vielmehr nimmt er sie als faszinierende Zeichenträger wahr. Als Symbole. Weil er weiß: Die Stadt ist eine Bühne, ist Öffentlichkeit, Ort der Inszenierungen, die vom Privaten unterschieden ist.

Soweit das Idealbild eines fast Schiller’schen Scheins, der die Öffentlichkeit als Bühne begreift, und damit «die Wirklichkeit überwindet». Soweit Balzacs Kosmopolit, wie ihn Sennett ins Feld führt, um ihn bald zu beerdigen. Denn der Wandel, der von der fortschreitenden Industrialisierung ausgeht und die Städte neu organisiert, verunsichert den Kosmopoliten so sehr, dass er die eben noch genossene Differenz nicht mehr goutiert. In der Stadt, auf der Bühne. Je weniger er weiß, wer im Theater neben ihm sitzt, umso genauer will er wissen, wer da genau auf der Bühne steht. Das Verlangen nach Authentizität ist auch ein Verlangen nach Wahrheit im Sinne totaler Gewissheit. Es ist ein Verlangen nach Ruhe. Warum Symbole, wenn gleich das Richtige sich selbst repräsentieren kann.

Das muss uns bekannt vorkommen, auch im Theater. Die Gattung der Performance hat den Schauspieler mit der Figur in eins gesetzt, bis hin zu Bonmots von berufener Stelle, von Marina Abramovic, die sagt: «Theater ist so tun als ob, Performance ist real». So hat die einst gegenkulturelle, vom Anti-Establishment beseelte Kunstgattung mitgeholfen, die Spektakularisierung des eigenen Lebens weiter zu treiben. Die Performance sagt dasselbe wie Graham Nash: Be yourself. Wenn die Performer schlau genug sind, hat das natürlich nichts Privatistisches, vielmehr geht es zum Beispiel um den Zuschauer als Akteur, oder als Zeuge einer Aktion, die nur auf sich verweist, und damit weder auf eine Person noch auf eine Figur. Aber oft ist das ein Nebenschauplatz: Ich habe ausreichend Performance erlitten, die das Persönliche tatsächlich für Kunst hält. Auch auf Stadttheaterbühnen, in auf den ersten Blick ganz konventionellen Inszenierungen.

Ein weiteres Beispiel: Der Theaterbetrieb führt seit ein paar Jahren – endlich – eine Debatte darüber, wie man mit der demografischen Tatsache umgeht, dass in deutschen Großstädten bald mehr als die Hälfte der Kinder zu Hause nicht Deutsch als Muttersprache spricht. Es ist ein Wandel, der zurzeit ein paar atemberaubende Karrieren sogenannter post-migrantischer Theaterschaffenden ermöglicht und Hoffnung macht, dass es sich dabei nicht um eine bloße Mode handelt.

Die Kehrseite davon ist – manchmal – die zeitweilige Rückkehr eines authentizistischen, kunstfernen und im Kern narzisstischen Darstellerbegriffs: Es gibt Stimmen, die meinen, nur Post-Migranten könnten post-migrantische Figuren verkörpern. Und nur Dunkelhäutige sollten den Othello spielen. Man verwechselt dabei die dringende Diskussion um Teilhabe mit einer ästhetischen Zurichtung des Bildbegriffs. Wer das Bild (oder den Schauspieler) und seinen Exzess an Bedeutung kontrollieren will, hat vor allem Disziplinierung im Sinn. Es sind Macht-, weniger Kunstfragen. Das Deutsche Theater wird diese Diskussion an den Autorentheatertagen weiterführen, am Symposium mit dem polemischen Titel «Authentizitätsterror» (am 10. Juni).

Ein gesellschaftlicher, aber auch ein künstlerischer Kontrakt wird gekündigt, wenn es, wie Sennett sagt, «als unmoralisch gilt, anderen etwas vorzuspielen oder eine Pose einzunehmen.»

Denn wenn es darum geht, einen künstlerischen Wandel einzuleiten, spielt die Pose immer eine zentrale Rolle. Oder das, was wir als Pose wahrnehmen. Nirgends ist das in der Popgeschichte regelmäßiger zu beobachten als in der afroamerikanischen Kultur. Dort hat man, aus Not, eine Sprache gelernt, die man als «uneigentliches Sprechen» bezeichnet, also eine Rede, die so stark codifiziert ist, dass sie für Aussenstehende, Andersdenkende nicht verständlich ist. Weil man zum Beispiel Gewalt oder mindestens Zensur zu befürchten hat. Unter Popkritikern gerne genannt wird an dieser Stelle die Subkultur des Voguing, die 1990 mit dem Dokumentarfilm «Paris is Burning» auch eine Öffentlichkeit außerhalb New Yorks erreicht hat.

Voguing war ein Tanzstil, eine kompetitive Bewegung in den Ballsälen von Harlem und Spanish-Harlem. Es ist oder war eine Kultur mehrfach ausgegrenzter Männer: homosexuelle Söhne katholischer Mütter, afroamerikanischer oder hispanischer Herkunft. Der Stil selbst ist eine halb parodistische, halb sehnsuchtsvolle Aneignung von Laufsteg-Stilen, Pantomime und etwas Akrobatik. Die Pose ist alles, sie entscheidet über den Rang im Wettbewerb. Der wichtigste Begriff des Voguing war: Realness, wie im Hiphop übrigens auch. Wahrhaftigkeit als ein Zeichen einer von allen als gelungen empfundenen Inszenierung. Im Voguing ist Realness also kein natürlicher, sondern ein gemachter Zustand, für den man etwas leisten muss: Logisch war es Madonna, diese Kultur 1991 im Mainstream bekannt machte (sie hat mit ihrem Hit «Vogue» übrigens erst kürzlich den Superbowl eröffnet und eine Prise Homoerotik in die teuerste Sendezeit der Welt getragen). Doch das Prinzip war längst bekannt: «You make me feel mighty real» singt der Frauendarsteller Sylvester bereits 1978.

Wir könnten nun sagen: alles lange her. Oder: weit weg, geografisch und sozial. Aber erinnern wir uns kurz an eine der erfolgreichsten und wie ich finde: gelungensten, einflussreichsten Inszenierungen der Nullerjahre: Emilia Galotti, Regie Michael Thalheimer, Premiere in diesem Haus, Ende September 2001. Was Einar Schleef in schwer und wuchtig gemacht hatte, erreichte Thalheimers Ensemble plötzlich scheinbar leicht: Die Sprache vom Körper trennen, bis es es schmerzt. Keine Einheit, keine Authentizität. Vorne an der Rampe wurde der Text abgefeuert. Und bis man an der Rampe war, war alles Autftritt. Pose.

Wie eine Modenschau. Doch diese Gänge, diese Catwalks, von manchen Figuren regelrecht zelebriert, erzählten mindestens so viel über diese Menschen wie das Lessingsche Sperrfeuer. Auch hier gab es Wahrhaftigkeit nur in der Pose.

Was entsteht, wenn das Vorspielen, die Pose, das Spiel, ja wenn die Kunst diskreditiert werden, ist der Kult der Intimität. Der Fetisch des Echten. Des Gefühligen. Sennet, der Linke, übt 1974 auch Kritik an den Folgen der psychologieseligen 68-er Bewegung. Es ist eine Kritik an einer Neuen Linken, die sich damals formierte. Dieser Wandel sollte auch Politiker herborbringen wie Gerhard Schröder und Joschka Fischer, deren «menschliches» Auftreten und oft auch deren Privatleben so viel zu reden gaben, dass man gerne übersah, wie sehr sie die Privatisierung des öffentlichen Lebens vorangetrieben haben, unter linker Flagge, das Herz stets auf dem rechten Fleck. Was von diesen Politikern vielleicht am meisten erinnert werden wird: Brioni-Anzüge, Männerfreundschaften und ein betrunkener Auftritt zum Abschied beim einen, Turnschuhe, Gewichtsschwankungen und ein paar Ehen beim andern. Der Wahlkampf um die französische Präsidentschaft hat das noch einmal aktualisiert: Hollande hat auch deswegen gewonnen, weil er sich unermüdlich als ganz normaler Mann stilisierte, der auf Privilegien pfeift, während der extravagante Sarkozy in Luxuslokalen speist. Dass die Frauen dieser Männer so gut wie identische Frisuren tragen, ist den Franzosen offenbar entgangen.

Ein Denken, das auf strukturale Gegensätze baut, müsste nun eigentlich fordern: Nach dem Authentizismus, nach der Tyrannei des Privaten und der Intimität muss die Maskerade wieder siegen! Die Verwandlung, die stete Neuerfindung des Selbst. Oder der «Flexibilismus», wie das Diedrich Diederichsen in einer Vortragsreihe nannte, die vor vier Jahren unter dem Titel «Eigenblutdoping» als Buch erschien. Madonna ist das universellste Beispiel, um zu zeigen, wie schief das gehen kann. Die Figur, die der ganzen Welt beigebracht hat, wie man sich öffentlich stets neu verwandeln und selbst bestimmen kann, dieselbe Figur hat diese ehemals emanzipative Geste zum Befehl umgewertet. Sie erzählt heute nur noch vom Zwang, sich verwandeln zu müssen. Das wiederum kennen viele bereits vom Arbeitsmarkt, da kann man sich die 190 Euro für einen Stehplatz im Prinzip sparen (zugegeben: ich würde dennoch gerne hingehen, selbst ein Stahlbad ist noch ein Bad).

Es geht also nicht um einen Showkampf zwischen dem nackten Leben auf der einen und der verkleideten Kunst auf der anderen Seite, zwischen Authentizität und Maskerade. Auch die Maskerade kann eindeutig sein, geheimnislos, restlos definiert, und extrem narzisstisch besetzt. Interessant wäre vielmehr eine Kunst, die diese Grenzkonflikte sichtbar hält und als Ort der Unterhandlung überhaupt ins Spiel bringt.

Bei der Lektüre der genau hundert eingesandten Stücke habe ich das alles selten beobachtet. Drei Tendenzen fallen auf. Erstens: Die Themenstücke. Nach fünf, zehn Seiten ist das Thema erschöpfend dargestellt, das jetzt nur noch seiner Wiederholung in Dialogform entgegenstrebert. Wenn das Theater dem Ruf nach Relevanz mit Fingerübungen aus dem Geist der Reportage begegnet, entsteht meistens Redundanz. Zweitens: Die Retrostücke. Nach fünf, zehn Seiten erkennt man die Form, vermisst aber den Anlass – das ist ein klassisches Retroproblem. Oft liest man einen Sound, der Jelinek, Schwab, Kroetz oder Pollesch reproduzieren will und dabei sogar Schauplätze kopiert: Bergwelt, Provinz, Gewalt, Kleinfamilie, heterosexuelle Hegemonie. Aber man merkt gleich, dass ein Furor fehlt, eine Notwendigkeit, diese Themen mit einer spitzen Sprache aufzubohren. Drittens: Die Kunststücke. Sie gehen davon aus, dass im Theater eh alles egal ist und ein Schauspieler am liebsten Phrasen nachlauscht, die noch nichtmal die engsten Freunde interessieren.

Ich vermute drei Gründe. Für das Themenstück: Die Jungdramatik wird von der Dramaturgie zu oft dazu angehalten, ein irgendwie relevantes Zeitstück zu liefern, da findet eine Art generationelles Outsourcing von Dringlichkeit statt, sollen die Jungen mal was Wichtiges schreiben, wir machen derweil Kunst. In die Kategorie des Themen- oder: Zeitstücks fallen auch die vielen Versuche, TV-tauglich zu schreiben; warum man sich lieber am geriatrischen Fernsehen statt an aktuellen amerikanischen Serien orientiert, bleibt derweil ein Geheimnis. Für das Retrostück: Die Jungdramatik steht, wie wir alle auch, unter Druck, das ausbleibende Neue zu erfinden, und wendet sich stattdessen der Kunstgeschichte zu, leider in den seltensten Fällen bewusst. Für das Kunststück: Die Jungdramatik denkt, Theater sei eine Selbstverwirklichungsanstalt (in der nur die inneren Werte zählen, und zwar die eigenen). Es muss klar sein, dass die Jungdramatik das nicht selbst verschuldet, sondern dass diese Typologie ein Symptom darstellt. Ich kann wiederum nur mutmaßen wovon: Vermutlich ein Symptom der Irritation, was ein Theaterstück noch leisten soll. Und, da bin ich mir nun einigermaßen sicher: Ein Symptom davon, dass wir nicht mehr wissen, wie wir Öffentlichkeit darstellen sollen, wenn sie derart auf dem Rückzug zu sein scheint.

Die Stücke von Charlotte Roos, Nina Büttner und Sarah Tabea Paulus haben mich dagegen gefordert, manchmal überlistet. Und auch überrascht. Während der Lektüre musste ich das Motto der Ausschreibung erst einmal vergessen. Ich soll hier nicht die Kunst fördern, die mir inhaltlich entspricht. Ich möchte nicht der Tendenz folgen, dass Kulturförderer sich zunehmend als Künstler oder Kuratoren begreifen, also selbst Themen setzen wollen, anstatt die der anderen zu ermöglichen. Die Überraschung: Wie sehr sich die drei ausgewählten Texte dann doch alle als Versuche über die irritierte Idee von Öffentlichkeit lesen lassen.

Charlotte Roos hat mit «Wir schweben wieder» vielleicht das Stück geschrieben, das am deutlichsten in die Ausschreibung passt. Es ist ein Text, der von Posen, Blicken, ich würde sagen: von Auftritten im Spätkapitalismus handelt. Eine Frau übersetzt live eine globalisierungskritische Rede des venezeolanischen Präsidenten und Kommandanten des Gutmenschentums Hugo Chavez, während ihr depressiver Mann mithilfe einer Prostituierten vergeblich die Männlichkeit wieder zu erlangen sucht. Eine andere Frau tanzt in einem Erotikklub an der Stange, und spielt für einen neuen Stammgast allmählich eine wirklich wichtige Rolle, jene des toten Vaters nämlich, der noch linke Ideale hatte, die sein Sohn nie verstanden hat. Eine Frau, die sich nur fast schön findet, joggt drei Mal in der Woche und entwickelt dabei Gewaltfantasien: immer fehlt etwas zum perfekten Körper. Die Übersetzungskabine, die Erotikbühne, der Zuschauersaal, die Laufstrecke: das sind alles auch Bühnen, auf denen den Figuren eine definierte Rolle abverlangt wird, die sie nicht perfekt darstellen können. Wahrheit gibt es nur im Tod. Der Schluss spielt dann eine gemeinsame Fantasie durch, die sich in der Tat nicht ganz einfach definieren lässt. Roos zeichnet aus: Sie hat eine klare Idee von Motiv, von Variation. Von Form. Es ist eines der am strengsten komponierten Stücke der 100 Einsendungen. Obwohl der Text dieses Formbewusstsein nicht mit der Flüstertüte verbreitet. Man merkt: Roos hat nicht zum ersten Mal Figuren geschrieben.

«Totberlin» von Sarah Tabea Paulus verlegt die Veränderung von der Idee, was Stadt ist, in ein Personendreieck. Das ehemals Öffentliche wird hier ganz plastisch privat, die Konsequenz kann nur die Psychose sein. Das Stück pendelt zwischen der Anstalt, der Stadt und ihrem Gegenteil: dem Wald. Zum einen. Zum andern spielt „totberlin“ aber auch mit der Ähnlichkeit zwischen der Art und Weise, wie man eine Stadt kartografiert und wie man auf eine Person projiziert. Wörter sind wie Geschosse, heißt es einmal, das Geschwisterpaar im Zentrum hat panische Angst, vom andern zugeschrieben zu werden. Ordnen ist auch ein Akt der Gewalt. Das Antlitz des anderen, würde der französische Ethiker Emanuel Lévinas wohl sagen, darf nicht zu Markte getragen werden. Die dritte Figur ist dabei lange Zeit die Duldende. Das kann nicht gut gehen. Sarah Tabea Paulus hat einen der wildesten Texte geschickt, der sich nicht allzu lang mit Konventionen abgibt, außer ganz am Schluss (den ich gerade nicht gelungen finde). Aber was Paulus davor zeigt, ist selten und gehört gewürdigt: Sie hat ein Thema, das ihr so wichtig ist, dass sie es lieber überdeterminiert, als es auf eine Infografik herunterzubrechen. Es ist ein Text, der von Verausgabung erzählt. Die meisten andern erzählen von Disziplinierung.

«Schafinsel» von Nina Büttner spielt in einem Haus, wie es sie früher in Berlin noch öfter gab, in einem Haus also, das bis zu einem gewissen Grad eine soziale Mischung beherbergt. Hier gibt es Unterschicht neben Kleinbürgertum, Prostituierte neben ehemaliger Linker. Und einen angehenden Studenten, der Reclam-Hefte liest, gibt es auch. Nina Büttner scheut sich nicht vor Klischees. Wie unerschrocken sie mit diesen Bauklötzen spielt, ist das Ereignis dieses Stückes. Wie sie Unwahrscheinlichkeiten eine gewisse Plausibiltät verleihen kann, mit dem Trick der Komödie, sicher, aber auch mit dem außerordentlichen Gespür für Rhythmus (was miteinander zu tun hat). Eine schnellere Eröffnung als die erste Replik habe ich schon lange nicht mehr gelesen, in der die Hauptfigur erwidert: «Ich bin fast dreißig und die duzt mich, als hätte sie mich gesäugt.» Zack. Mindestens so wichtig wie die Beschreibung des sozialen Spagats ist Büttners Fähigkeit, Figuren von mindestens zwei Generationen schreiben zu können, ohne dass die älteren nur knorrige Kulisse bleiben. Wie sie die unmögliche Liebesgeschichte erzählt, erzählt dann wieder etwas über die Wonnen des Vorspielens.

Soviel zu den drei Stücken, auf deren Umsetzung am 16. Juni ich mich freue. Der Aufruf, nicht auf jeden Befehl, man selbst sein zu müssen, mit Gehorsam zu reagieren, kann paradox verstanden werden. Ich hoffe, dargelegt zu haben, dass sich dahinter eine Idee von Öffentlichkeit und Kunst verbirgt und nicht eine Aufforderung, unter falschem Namen auf nachtkritik.de Kommentare zu schreiben. Es ist keine abstrakte Tugend, jemand anders zu sein. Aber es ist ein Zeichen von angenehmer Zeitgenosschenschaft, wenn man die Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem im Blick behält. Erst recht als Schauspieler. Alle großen Schauspieler, die in meiner Sehbiografie eine Rolle spielen, arbeiten mit diesem Kontrast von großer Individualität und großer Stilisierung. Ich denke an so unterschiedliche Künstler wie Sophie Rois, Ulrich Matthes, Joachim Meyerhoff und Fritzi Haberlandt. Sie sind nicht sie selbst. Und doch ganz bei sich.

Graham Nash ist im letzten November übrigens mit seinem alten Kumpel David Crosby bei Occupy Wall Street aufgetreten. Sie haben «Teach your Children» gesungen von 1969. Auch da gibt es den Befehl, der im Songext «Code» heißt, «to become yourself». Das Selbst ist auch hier nicht Ort der Befreiung, sondern nur ein weiterer Knast. Wir haben mindestens die Kunst, um daraus immer wieder auszubrechen. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Und danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Rede zur Eröffnung der Autorentheatertage im Deutschen Theater vom 5. Juni 2012.
Musik: Graham Nash, «Be Yourself» (Projektion: Cover)

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