28.5.15, Uraufführung von "A1 – Ein Stück Schweizer Strasse", Zürich ,Schauspielhaus (Pfauen).

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Die Proben für A1 – Ein Stück Schweizer Strasse beginnen erst in zwei Wochen. Und doch fühlt es sich wie das erste Tageslicht nach langer Zeit an. Denn: Die Stückfassung ist fertig. Oder Arbeitsfassung, wie es im Theater heißt. Denn ändern wird sich mit Sicherheit noch eine ganze Menge. Auf den Proben, wenn die Schauspieler da sind (Michael Neuenschwander, Markus Scheumann, und mein Bruder Mike Müller). Bereits vor einem Jahr haben Mike und ich angefangen, das Stück zu skizzieren und erste Interviews zu planen. Wir haben gelesen, ich saß wie früher in der Zentralbibliothek Zürich und suchte in alten Zeitungsjahrgängen auf Mikrofilm nach Berichten über Autosalons, über Eröffnungen von Autobahnteilstücken und Abstimmungskämpfe umweltpolitischer Volksinitiativen. Im Mai führten wir das erste Gespräch, gefilmt von Studierenden. Viele Tage verbrachte ich nochmal in der Schweiz, um das Videoarchiv des Schweizer Fernsehens zu plündern. Es ist ein Schatz, man verliebt sich sofort in diese Bilder, in diesen Schweizer Betonporno, den die Kameramänner abfeierten, und auch in den „kritischen“ Mainstream der allmählich längerhaarigen Reporter, die rauchten und nicht mehr „Herr Doggtr“ sagten. Wir fuhren die A1 während zwei Tagen ab, schliefen im Motel und nahmen jede Raststätte mit. Selten so müde gewesen. Wir führten an die 40 Interviews. Mehrere Transkribenten leisteten eine Riesenarbeit. Und aus diesen Texten, Filmen, Artikeln und ein bisschen Phantasie schusterten Mike und ich über zwei, drei Monate hinweg einen Text. Wir sind am Ende. Wir fangen an. Unser Regisseur Rafael Sanchez, mit dem wir auch die beiden früheren Theaterarbeiten realisiert haben, liest gerade.

Unter dem Titel „Christoph Schlingensief – Bürgerbühnenregisseur avant la lettre?“ habe ich am Sonntag, 21. März, in Mannheim eine Runde mit Matthias Lilienthal, der Theaterwissneschaftlerin Sandra Umathum und der Dramaturgin Janine Ortiz moderiert.

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Irm Hermann lehrt die „Freakstars 3000“ sprechen.

 

Das Programmheft des Bürgerbühnenfestivals schreibt: „Schlingensief arbeitete mit Behinderten, Neonazis, Asylbewerbern, Arbeitslosen, Obdachlosen. Fixpunkt war stets die erlebte Wirklich- keit außerhalb des Theaters. Unter anderem das Spiel mit Authentizität, die Frage „echt oder nicht echt?“ provozierte vielfach das Publikum. Aber was ist eigentlich echt? Haben wir von sogenannten nicht-professionellen Schauspielern mehr „Echtheit“ zu erwarten? Was heißt Schauspielen?“

Alle drei Gäste haben zu ganz unterschiedlichen Zeiten mit Schlingensief gearbeitet. Und Ortiz hat in Dresden auch schon einmal eine Arbeit für die Bürgerbühne betreut. Da ich einen Ausschnitt aus Schlingensiefs „Freakstars 3000“ zeigte, einer bösen Paraphrase auf das Format Casting Show mit seinen Lieblingsbehinderten aus Berlin-Lichtenrade, spielte auch das Thema Inklusion eine große Rolle. Umathum hat gerade ein Buch herausgegeben zum „Disabled Theater“ von Jérôme Bel (mit Benjamnin Wihstutz, ab Mai bei diaphanes). Wir haben natürlich viel von unseren Schlingensiefmomenten erzählt, dabei aber immer wieder versucht, den Vergleich zum Inklusionstheater oder zu partizipatorischen Formaten hinzukriegen. Es war eine sehr angenehme, weil kompetente Runde, die nichts verklärte. Der Oberklartext kam, wie nicht anders zu erwarten, gegen Ende von Lilienthal: „Ich glaube, Schlingensief hätte die Bürgerbühnen ziemlich scheiße gefunden.“ Ein Tenor der Runde war, wenn ich mich richtig erinnere: Lasst extreme Arbeitsweisen auch mit Laien zu, holt exzentrische Regisseure, mischt die Bürger mit Ensemblemitgliedern.

Play the Beat - Das Theater und die Musik (Kammerspiele, Deutsches Theater)

Tobi Müller (l.), Jens Balzer (Foto Roland Owsnitzki)

Im November und im Januar haben Jens Balzer und ich uns in die Arena der Kammerspiele des Deutschen Theaters geworfen, um die schwierige Beziehung von Theater und Popmusik auf die Couch zu legen. Wir haben zehn Videointerviews geführt, mit zwei Schauspielern Texte zum Thema geprobt (Peter Moltzen und Natalia Belitski: vielen Dank!), und wunderbare Gäste geladen, nämlich Schorsch Kamerun und Thomas Meinecke für die Männerrunde und Gayle Tufts und Angela Richter für den Frauenabend. Erst diskutierten wir den Einfluss, den Pop auf die Bühne hatte, von historischen Aufführungen bis hin zu aktuellen Versuchen, die den Musiker eher als Auteur begreifen denn als Regisseur oder gar Soundtracklieferant. Am zweiten Abend, mit Tufts und Richter, war die umgekehrte Richtung Thema: Es ging um den Einfluss der Bühne auf die Popproduktion. Die für jeweils einen Abend lächerlich intensive Vorbereitung hat Spaß gemacht, die Arbeit mit den Schauspielern und mit den Gästen sowieso, und Auftritte mit Jens sind immer toll. Aber, seien wir ehrlich: Die Diagnose, dass es sich bei Theater und Pop um eine schwierige Beziehung handelt, konnten wir auch nicht überwinden. In der Tendenz war es den Theaterleuten zu musiklastig und den Musikleuten zu theaterlastig. Das Gespenst vom Graben zwischen Hoch- und Popkultur trieb also etwas Schabernack. Sorry für das exzentrische Bild, ich hätte auch lieber die Gäste gezeigt, aber es ist gerade kein anderes da.