28.5.15, Uraufführung von "A1 – Ein Stück Schweizer Strasse", Zürich ,Schauspielhaus (Pfauen).

Die Lust der Briten auf den Rock der Deutschen

Ab heute spielen Kraftwerk in Berlin acht ausverkaufte Konzerte. Ihre Wurzeln hat die Band im Krautrock, mit dem die Deutschen in den 60ern ihre eigene Musik erfanden. Geschrieben darüber wird aber bis heute vorwiegend in England.

Die Neue Nationalgalerie ist das coolste Gebäude Berlins. Kühler wurde die Moderne nicht mehr als in diesem Kubus aus Glas und Stahl, den Mies van der Rohe 1968 baute. Wenn dieser Raum leer ist, wirkt er wie ein Gotteshaus des Minimalismus: klare Kanten, totale Durchsicht. Dort spielt die deutsche Band Kraftwerk ab heute acht ausverkaufte Konzerte. Raum und Musik sind wie geschaffen füreinander: Kraftwerk ist ­architektonischer Klang.

Der Mythos Kraftwerk begann 1975, als die Band mit «Autobahn» und zwei Jahre später mit «Trans Europa Express» das Design der elektronischen Zukunftsmusik präsentierte. Heute nervt die Band. Ralf Hütter, der einzig verbliebene Kraftwerker aus der Gründungszeit, tilgt das Frühwerk aus dem Katalog und prellt frühe Mitmusiker um den Ruhm. Seit Jahren rezykliert er das Immergleiche, das schon 1986 an sein Ende kam. Neu ist nur die Verpackung. Und aus Angst, dass jemand seine Version anders interpretieren könnte, gibt er nur Medien Interviews, bei denen er sogar die Gestaltung kontrollieren kann.

Bowies Knicks vor Kraftwerk

Spannender als diese Selbstmusealisierung ist die Geschichte, die zu Kraftwerk führt. Man nennt die westdeutsche Musik zwischen Ende der 60er- bis Mitte der 70er-Jahre auch Krautrock. Es gibt zwei Phasen: Zuerst spielte Improvisation eine grosse Rolle, da trugen selbst die Kraftwerker lange Haare. Dann wurde die Form strenger. Die meisten Bands zerfielen. Zurück blieb der frisierte Maschinenpop. Wie sehr Kraftwerks «Schaufensterpuppen» mit den haarigen Krautrockern zusammenhängen, wissen in Deutschland heute nur noch wenige.

In England dagegen, wo der Begriff herkommt, ist Krautrock Kult. Julian Cope hat vor 20 Jahren das erste Standardwerk dazu geschrieben, den «Kraut­rocksampler». Die Musiker mochten das Label «Krautrock» zunächst gar nicht. Kein Wunder: auch die deutschen Wehrmachtsoldaten wurden von den Briten «Krauts» genannt, Sauerkrautfresser.

Auch David Stubbs entschuldigt sich für den Begriff in seinem jüngst erschienenen Buch «Future Days – Krautrock and the Building of Modern Germany». Es ist der bislang beste Führer zum Thema. Stubbs wechselt elegant die Register, springt von einer Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik zu einer inspirierten Beschreibung der Musik. Und er hat mit vielen Musikern gesprochen.

Interessant ist die Spiegelung über die Britischen Inseln. Denn in Deutschland selbst gibt es nichts Gutes über Krautrock, ausser Christoph Wagners «Der Klang der Revolte». Noch nicht einmal über Kraftwerk. Auch deren jüngste Biografie stammt von einem britischen Autor, «Kraftwerk: Publikation» von ­David Buckley. Warum gehen die Briten vor Krautrock in die Knie? Als müssten sie sich für ihr andauerndes Witzfeuer gegenüber den «Blitzkrieg-Achtung-Kartoffel»-Deutschen entschuldigen.

Vielleicht liegt es an David Bowie, der 1976 in Deutschland nach neuen Sounds und Erholung von seinen Exzessen suchte. Erst hatte der magere Brite beim Krautrock-Produzenten Conny Plank aufnehmen wollen, in Neuenkirchen Selscheid. Doch Planks Frau soll das verhindert haben mit dem Spruch: «Der Junkie kommt mir hier nicht rein!» Dann flüchtete Bowie nach Berlin. Und produzierte drei Platten, die zu den verehrtesten seines Werks zählen. Man hört die Kraut-Anleihen: die elektronischen Ausflüge, die Abkehr vom Soul und die Hinwendung zu flächenhaften Formen, etwa im Song «V-2 Schneider», einem Knicks vor dem Kraftwerk-Musiker Florian Schneider und einer der vielen Naziwitze dieser Zeit (die V-2 war die deutsche Rakete).

Der zweite Grund für den britischen Kult um Krautrock ist spekulativer: Vielleicht liegt ihm ein unvermuteter Minderwertigkeitskomplex im Mutterland des Pop zugrunde. Denn selbst die Beat­les und die Stones waren zu Beginn ihrer Karrieren Kopisten, von afroamerikanischem Blues und Rock & Roll. Wir wissen, wie später daraus etwas Eigenes entstand. Aber ein Gschmäckle blieb für manche Briten dennoch zurück. Die besten Bands des Krautrock dagegen haben es geschafft, sich von den Einflüssen aus Übersee zu befreien. Eine der wichtigsten hiess nicht umsonst: Neu!

Fern von jeder Kraftmeierei

Im Hintergrund dieses Bruchs stand auch die akademische Musik. Irmin Schmidt und Holger Czukay, Gründer der Gruppe Can, waren Schüler Karlheinz Stockhausens. Doch mindestens so wichtig für den Sound der Gruppe erscheint heute das Schlagzeugspiel von Jaki Liebezeit – einem Jazzer, dem der Freejazz 1968 zu formelhaft vorkam. Er fand, fernöstlich inspiriert, die Freiheit in der Reduktion und in der Wiederholung. Und Holger Czukay, der Bassist, klebte die Bänder in mühsamer Handarbeit zu Stücken zusammen.

Neu am besten Krautrock war auch, dass er denkbar fern war von jeder Kraftmeierei und somit von allem, was in der ersten Hälfte der 70-er-Jahre sonst als interessant galt: Bruce Spring­steen, Led Zeppelin, Pink Floyd. Wobei Pink Floyd manche Krautrocker stärker beeinflussten, als sie zugeben. Aber so etwas wie Led Zeppelin und Robert Plants Schreie eines brünstigen Pfaus aus dem Mississippi-Delta wurden in Köln und Düsseldorf nicht gehört. Die Deutschen hatten ihr eigenes Ding.

Beeindruckend fanden die Pop-gebildeten Engländer auch die historischen Verweise von Krautrock. Es ging um Neuanfang, aber auch um die Neuaneignung von Traditionen, die in den Trümmern des Krieges lagen. Das Wort «Motorik», das die englischen Journalisten mit dem harten deutschen k schrieben, geht auf den Komponisten Paul Hindemith zurück. Und wenn man Klaus Dingers Beats mit der Band Neu! noch mal hört, klingt nichts so deutsch wie das Schlagzeug.

Wer heute nach den Krautrock-Wurzeln von Kraftwerk sucht, wird auf Youtube fündig. Es gibt einen TV-Mitschnitt vom Westdeutschen Rundfunk, der 1970 die frisch gegründete Kraftwerk zeigt, mit Klaus Dinger am Schlagzeug («Kraftwerk – Live in Soest»). Ab der 11. Minute pfeift es perfid, bis ein Beat einsetzt, der 20 Jahre später als Acid House durchgegangen wäre. Die westfälische Jugend schaut verwirrt aus dem Haarvorhang – wie auch anders, wenn man gerade die Zukunft gesehen hat.

Vielleicht ist der aktuelle Rummel in Berlin im Vorfeld der Museumskonzerte Anlass für eine überfällige Wende: Kraftwerk werden gefeiert, später geprüft. Und auch über Can – immerhin die beste deutsche Popgruppe der 70er – soll es bald die erste deutsche Biografie geben. Die Briten kriegen Gesellschaft.

© Tages-Anzeiger; 06.01.2015

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